HIV/Aids-Prävention und Public Health in der Schweiz

"Melden Sie sich bitte beim Amtsarzt"

Von Andrea Cadotsch und Betrino Somaini

Erstmals in der Geschichte der Epidemienbekämpfung in der Schweiz wurde in der HIV/Aids-Kampagne des Bundesamtes für Gesundheit der Aufklärung der Bevölkerung und der Information über Schutzmassnahmen klare Priorität beigemessen. Nicht zuletzt, weil es lange Zeit keine therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten gab, standen - und stehen - in der Kampagne zur Eindämmung der Aids-Epidemie moderne, auf das Verhalten der Bevölkerung ausgerichtete „Public Health"-Massnahmen im Vordergrund. Ist die HIV/Aids-Kampagne nur ein Sonderfall - oder ein Modell für andere Gesundheitsbereiche? Ein Gespräch mit Bertino Somaini.

Lesezeit 6 min.

Herr Somaini, wie kommt es dazu, dass Sie sich in vertiefter Weise mit Aids-Prävention befassen?

Ende 1981 habe ich meine Arbeit als Leiter der Sektion Epidemiologie beim Bundesamt für Gesundheit aufgenommen. Der erste Aids-Fall überhaupt wurde Mitte 1981 in den USA beschrieben. 1982 hat sich ein Tessiner Arzt bei mir gemeldet, nachdem ein Schweizer mit der neuen Krankheit aus den USA nach Hause zurückgekehrt war. Der Patient erhielt die Aufforderung, sich beim Amtsarzt für die nötigen Massnahmen zu melden, doch niemand hatte bei uns eine Ahnung, was zu tun war. Aids war zunächst ein Thema unter Epidemiologen, dann in den Medien. Ich ging damals n die USA, um mir das anzusehen. Mit meinen epidemiologischen Kenntnissen musste ich davon ausgehen, dass die Chance gross war, dass die Krankheit auch in die Schweiz kam. Deshalb setzte ich mich intensiver mit der Aids-Problematik auseinander.

Haben Sie damals in den USA bereits Ideen der Aids-Prävention aufnehmen können?

1982 gab es auch in den USA noch wenig Massnahmen im Präventionsbereich. Es ging vor allem um epidemiologische Abklärung und Überwachung. Für die Forscher, die sich mit Aids beschäftigten, war klar, dass es sich um eine sexuell übertragene Krankheit handelte, von der vor allem schwule Männer betroffen waren. Das Virus kannte man damals noch nicht. Die Diskussion war damals auch in Amerika noch nicht offiziell. Aids war ein Tabu, jedoch war für einige Forscher klar, dass eine wirkungsvolle Prävention im sexuellen Bereich nur zusammen mit den Betroffenen entwickelt werden konnte.

Dies wurde dann auch in der Schweiz von Beginn weg beachtet. Was waren die Ziele der Gruppe, die die Strategien der Aids-Prävention in der Schweiz entwickelte?

Es war damals eine relativ kleine Gruppe, da es nur wenige Kranke gab. Auch das Interesse der Öffentlichkeit war noch gering. Deshalb war es gut möglich, eine Kohärenz zu finden und auch klinisch tätige Ärzte zusammen zu bringen, die bereit waren, neben der medizinischen Strategie auch eine Public Health-Strategie zu verfolgen. 1985 standen drei Oberziele als Eckpfeiler fest:

  • neue Infektionen verhindern
  • die negativen Auswirkungen der Epidemie verringern
  • die Solidarität fördern

Vor allem der letzte Punkt war damals neu und recht exotisch. Aus den Oberzielen ergaben sich drei hauptsächliche Strategien: Aufgrund der Erfahrungen in den USA in anderen Bereichen der Public Health suchten wir einerseits einen Ansatz, bei dem die gesamte Bevölkerung angesprochen wurde. Gleichzeitig wollten wir uns auf bestimmte Zielgruppen konzentrieren: schwule Männer sind anders anzusprechen als etwa Drogenabhängige und heterosexuelle Frauen. Daneben stand als dritte, verstärkende Strategie die individuelle Beratung. Aus diesen Strategien wurden dann die konkreten Massnahmen abgeleitet.

Welche Gründe sprachen gegen ein Vorgehen im Sinne der klassischen Seuchenbekämpfung, wie es nach dem Epidemiengesetz denkbar wäre, z.B. mit obligatorischen Testungen und mit Isolation der Kranken, wie es auch einzelne Länder versuchten?

Ich habe mich in die Literatur zur klassischen Seuchenbekämpfung vertieft und bin zum Schluss gekommen, dass sie im Bereich der sexuell übertragenen Infektionskranheiten bisher zu keinen Erfolgen geführt hatte. Ich bin dann nochmals für zwei Wochen in die USA gereist, wo teilweise rigide staatliche Bekämpfungsstrategien eingesetzt wurden. Dort mussten zum Beispiel die infizierten Personen detaillierte Auskünfte über ihre Kontakte geben (Kontakt-Tracing). Ich habe mir das in der Gegend von New York und in einem mehr ländlichen Staat angesehen und bin dann zum Schluss gekommen, dass dieses System nur bei Krankheiten mit einer kurzen Inkubationszeit und bei einer wirkungsvollen Kontrolle funktioniert. Beim HIV mit seiner längeren Inkubationszeit ist es eine Illusion. Und in der Schweiz haben solche in die Freiheit der Einzelnen eingreifende staatliche Zwangsmassnahmen auch keine Tradition.

Die Aktivitäten zur Aids-Prävention sind intern wie auch extern, z.B. von der WHO, evaluiert worden und haben insgesamt gute Zeugnisse bekommen. Welche Stärken haben die Massnahmen, die an der Bevölkerung und an den Zielgruppen orientiert sind? Wo liegen die Grenzen?

Im Vergleich mit anderen Ländern haben wir die Präventionskampagne in der Schweiz relativ früh und mit einem kohärenteren Ansatz begonnen. Es ist uns gelungen, den Ansatz und die Strategien dem interessierten Publikum, der Politik, der Bevölkerung klar zu machen. Das war eine Erfolgsstory. Dabei hatten die Politiker, wie die Evaluationen zeigen, eigentlich Angst, das Thema so offensiv anzugehen, etwa mit Kondom-Plakaten. Doch wir sagten ihnen, wir würden es doch einmal versuchen und schauen, wie die Bevölkerung reagiere. Die Politiker könnten danach immer noch die Bremse ziehen. Die Umfragen haben daraufhin gezeigt, dass die Bevölkerung sehr offen reagierte und die Kampagne voll unterstützte: Über drei Viertel der Bevölkerung fanden die Kampagne gut, und so war der politische Druck nicht mehr so stark. - Dieses pragmatische, schrittweise Vorgehen wurde in den Evaluationen gelobt, ebenso die Kohärenz der Kampagne mit dem Ziel, die Einstellung der Bevölkerung zur Krankheit zu ändern und damit die Grundlage zu schaffen für spezifischere Aktivitäten in heikleren Bereichen. Als Beispiel die Schulen: 1986 habe ich selbst in verschiedenen Gesprächen versucht, Erziehungsdirektoren soweit zu bringen, dass HIV/Aids-Prävention einen Platz in der Sexualkunde an den Schulen erhielt. Doch in vielen Kantonen wurde abgewinkt; das war nicht möglich, war ein Tabu. So entschieden wir uns für Plakate. Die Jugendlichen sahen die Plakate, wollten darüber diskutieren - und Aids wurde zum Thema im Unterricht.

Wir haben von einer erfolgreichen Veränderung der Einstellung von Bevölkerung und Politikern gesprochen. Hat sich in der Schweiz auch das konkrete Verhalten verändert?

Das konkrete Verhalten ändert sich immer langsamer als die grundsätzliche Einstellung und das Wissen zu einem Thema. Doch gab es eine Dynamik in der Verhaltensänderung. Die Norm bezüglich des Kondomgebrauchs hat sich dramatisch geändert, auch bei Jugendlichen, was durch Untersuchungen gut belegt ist,: Bei zufälligen Sexualkontakten ist die Kondom-Anwendung heute wesentlich über 50%. Vor 1987 waren es ganze 6%.

Gab es da Unterschiede bei den verschiedenen Zielgruppen?

Gruppen, die stark betroffen waren, etwa schwule Männer, haben ihr Verhalten relativ rasch geändert. Bei den Heterosexuellen ist das ganze langsamer gegangen, obwohl wir von Beginn weg versuchten, alle anzusprechen. Bei den Drogenabhängigen meinten die Experten, sie seien sowieso nicht zu einem risikoärmeren Verhalten fähig - sie haben das Gegenteil bewiesen. Saubere Spritzen zu gebrauchen ist natürlich auch einfacher, als „safer Sex" zu praktizieren.

Ein Grund für die gewählte Strategie war damals auch das Fehlen einer wirksamen Therapie. Nun hat in letzter Zeit die antiretrovirale Kombinationstherapie Fortschritte bei der Betreuung von Aidskranken gebracht. Zwar sind wir noch nicht so weit, aber die Vorstellung, dass Aids heilbar sein werde, ist vielleicht doch etwas näher gerückt. Welche Voraussetzungen müssten Ihrer Meinung nach erfüllt sein, um die bisherige Strategie des Verhinderns von Neuinfektionen mit einer Eliminationsstrategie wie etwa bei der Poliomyelitis zu ergänzen?

Eine Eliminationsstrategie kann man sich erst dann überlegen, wenn ein sehr wirksamer Impfstoff vorhanden ist. Vorher ist sie aufgrund unserer Kenntnis der Virusübertragung untauglich. Trotzdem fragen wir uns, was die neuen Therapieformen, die offenbar relativ gut wirken, bringen. Doch sagt mir meine Public-Health-Erfahrung, dass es sich um einen Trugschluss handelt, von einer Therapie, die in Einzelfällen unter besonders günstigen Rahmenbedingungen gut wirkt, auf die allgemeine Wirksamkeit zu schliessen. Ein unter gut kontrollierten Bedingungen eingesetztes Medikament hat ganz andere Auswirkungen als in der weiteren Anwendung. Dies zeigt die Erfahrung mit der Tuberkulose, die seit 30 Jahren gut heilbar ist. Doch heute nimmt die Tuberkulose in vielen Ländern dramatisch zu; es gelingt einfach nicht, die Behandlung so umzusetzen, wie sie im Einzelfall funktioniert. Jetzt bei HIV/Aids von der Präventionsstrategie zu einem einseitigen Therapieansatz zu wechseln, wäre ein verhängnisvoller Schritt. Doch weil scheinbar eine Therapie möglich ist, besteht angesichts der limitierten Ressourcen auf politischer Ebene die Tendenz, die Budgets für die Aids-Prävention zu kürzen.

Glauben Sie, dass die Erfahrungen, die im HIV/Aids-Bereich mit dem neuen, bevölkerungsorientierten Public-Health-Ansatz gemacht wurden, sowie der mit der Kampagne verbundene politische Prozess dazu führen könnten, dass man in Zukunft auch in anderen Gebieten des Gesundheitswesens in gleicher Weise breiter, moderner vorgehen wird? Oder bleibt es beim Spezialfall HIV/Aids?

In anderen medizinischen Problembereichen gibt es oft so viele Experten, dass es sehr viel schwieriger ist, einen Konsens über das Vorgehen zu finden. Zwar möchten wir alle die neuen Ansätze übernehmen und vom medizinisch-präventiven Vorgehen zu einem bevölkerungsorientierten Ansatz gelangen. Doch ist dies nicht einfach. Es wird zwar rhetorisch immer wieder begrüsst, doch ist es viel aufwendiger, als viele glauben. Und Ressourcen werden dafür kaum zur Verfügung gestellt. Unter dem Deckmantel des Sparens zieht sich jeder in seine Domäne zurück. Dabei wäre HIV/Aids ein erfolgreicher Versuch, von dem man lernen könnte.

*Dr. med. Bertino Somaini, Experte in Public Health, arbeitete von 1981 bis 1993 beim Bundesamt für Gesundheitswesen. Ab 1987 war er als Vizedirektor für die Bereiche Epidemiologie und Prävention verantwortlich. Heute ist Bertino Somaini Abteilungsleiter am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen (EKAF). Die Fragen stellte Dr. Andrea Cadotsch, Dermatologe und MPH, Mitglied des Vorstandes von Medicus Mundi Schweiz.