Aids-Prävention in Nepal

Freiwillige kämpfen gegen die Mauer des Schweigens an

Von Reinhard Gasser

Die Regenzeit ist vorbei. Der grosse Tag des Dashain, Nepals Nationalfeiertag, ist gekommen. In den Strassen der Bezirksstadt drängen sich die Menschen. Auch die Männer sind aus der fernen Hauptstadt oder aus Nepalgunj zurückgekehrt. Einige haben den weiten Weg aus den indischen Grossstädten auf sich genommen und bringen etwas Geld für ihre Familien mit. Nach langer Trennung sehen sie ihre Frauen wieder. An diesem Dashain ereignen sich wunderliche Dinge...

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Junge Rotkreuzaktivistinnen und -aktivisten blasen in der nepalesischen Bezirksstadt Gummiballone auf und verteilen diese an die Schaulustigen. Es sind merkwürdige Ballone, die man bei Gelegenheiten braucht, über welche die Leute nicht zu sprechen gewohnt sind. Doch die Neugier siegt, und eine grosse Menge drängt sich bereits dort, wo ein Strassentheater aufspielt. Die Szenen sind harmlos, doch manch einem wird langsam klar, wofür der noch wenig vertraute Gummi gut sein könnte. Arbeitsmigranten wie Daheimgebliebenen fühlen sich angesprochen. Ob in Delhi, Kathmandu oder im Wohnort: Nicht wenige sind gelegentlich bei jenen Frauen aus der verachteten Badi-Kaste anzutreffen, welche mit den unterdrückten Wünschen der Männer ihr Überleben zu sichern versuchen. - Der „Kondom-Tag" in der nepalesischen Bezirksstadt befremdet, schockiert viele, doch er hinterlässt seine Spuren in den Köpfen der Menschen:

Migration und Frauenhandel

Die Szene spielt sich in der Bheri-Zone, der ärmsten Region Nepals, ab. Hier sterben über 100 von 1000 Neugeborenen schon vor dem 5. Lebensjahr. Und weniger als 20% der Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. In den Dörfern befehlen reiche Grossgrundbesitzer, die kleinen Bauern ernten nicht genug zum Überleben. Deshalb suchen viele ihr Auskommen in der Ferne. Nicht nur Männer. Immer jüngere Töchter aus armen Familien werden Opfer des Frauenhandels und landen in den Bordellen von Bombay. Die „Times of India" schätzte ihre Zahl schon 1989 auf 100’000. Heute sind es mit Sicherheit mehr. Diese Frauen kehren später vielleicht in die Heimat zurück, was nur möglich ist, wenn sie verschweigen, was sie in der sagenumwobenen Filmmetropole erlebt haben.

Hier, im Westen Nepals, arbeitet das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) mit der Nepalischen Schwesterorganisation zusammen. Mit Schweizer Unterstützung hat sich das Nepalische Rote Kreuz (NRCS) zu einer in der Entwicklungsszene des Landes nicht mehr wegzudenkenden Nicht-Regierungsorganisation entwickelt, welche in allen Distrikten auf aktive Sektionen zählen kann. Ähnlich wie in andern Ländern zeichnet sich die Rotkreuzarbeit in Nepal durch den engagierten Einsatz von Freiwilligen an der Basis aus. Das hat den Vorteil, dass die Projektarbeit mit minimer ausländischer Unterstützung möglich ist - sofern keine ausländischen Expertinnen und Experten benötigt werden. Seit drei Jahren leisten nun Rotkreuzmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in der Bheri-Zone Aufklärungsarbeit.

Die Ansteckung mit dem HI-Virus erfolgt überwiegend durch sexuelle Kontakte zwischen Frauen und Männern: Sexarbeiterinnen, Freier und Hausfrauen bilden dabei den weitaus grössten Teil der registrierten Fälle. Die Perspektiven sind beunruhigend: Schätzungen gehen von gegenwärtig 40’000 HIV-Positiven in Nepal aus. Im Jahr 2000 werden es über 100’000 sein. Und dies in einem Land, wo das Thema Sexualität in den Familien und im Schulunterricht tabuisiert ist.

Vorurteile und Verdrängung

„Hier haust Aids." Nichts zeigt die Verdrängung der Problematik besser, als dieser Spruch, den ein randalierender Mob an ein Haus in der verachteten Badi-Gemeinde sprühte. Aberglaube und Vorurteile prägen noch weitgehend den Umgang mit der Immunschwächekrankheit. „Wenn ich im Bus auf dem Sitz eines Infizierten Platz nehme, bekomme ich dann auch Aids?" fragen sich beispielsweise viele Leute.

Hier setzt das Projekt HIV/Aids-Prävention mit Bewusstseinsbildung an und baut dabei auf die vorhandenen Strukturen auf. Pionierarbeit hat bereits eine Selbsthilfeorganisation (S.A.F.E.) von Frauen und Männern der Badikaste geleistet, aus deren Reihen viele Sexarbeiterinnen stammen. Sie pflegen Kontakte zu Behörden und einflussreichen Kreisen und kämpfen gegen Vorurteile, organisieren Kundgebungen und betreiben ein Vertriebssystem zur Versorgung mit Kondomen. S.A.F.E. wird vom SRK unterstützt.

Vor drei Jahren sind die aktiven und motivierten Mitglieder der lokalen Sektionen des Jugendrotkreuzes als wichtige Akteurinnen und Akteure dazugestossen, weil der Aufklärungsarbeit bei Jugendlichen eine besondere Dringlichkeit zukommt. Wie in andern Entwicklungsländern besteht die Bevölkerung in Nepal zur grossen Mehrheit aus jungen Menschen. Die sexuelle Aktivität beginnt schon früh: Die Altersgrenze für die Verheiratung von Mädchen liegt bei 16 Jahren, 14-jährige Bräute sind jedoch keine Seltenheit.

In vorläufig fünf Distrikten konzentrieren sich die Anstrengungen auf Primar- und Sekundarschulen. Zur Vorbereitung wurden zehn Lehrer/innen während eines zehntägigen Seminars mit der Problematik von HIV/Aids konfrontiert. Gemäss dem Schneeballprinzip haben die Lehrer/innen ihr Wissen an Kolleginnen und Kollegen weitergegeben, welche wiederum die Freiwilligen des Jugendrotkreuzes ausgebildet haben. Aus dieser Arbeit heraus sind verschiedene Ausbildungsmaterialien entstanden, wodurch die Aufklärungsbotschaften an eine grössere Öffentlichkeit gelangen: Ein Spiel, Poster und Talent-Wettbewerbe (Volksmusik, Gedichte, Strassentheater), die bei Veranstaltungen - darunter der „Kondom-Tag" - durchgeführt werden.

Geringe Kosten - hohe Effektivität

Eine Evaluation hat letztes Jahr die grosse Effektivität dieser Ausbildung belegt: 97% der Befragten konnten korrekt über mehr als eine Ansteckungsart Auskunft geben. Damit die Arbeit fortgesetzt werden kann, hat das Nepalische Rote Kreuz das SRK um eine Verlängerung der Unterstützung und die Ausdehnung der Aktivitäten in drei weitere Distrikte angefragt. Das NRCS trägt auch seinen Teil zur Finanzierung bei: die verhältnismässig kleinen Aufwendungen können sogar teilweise durch lokales Fundraising gedeckt werden - auf dass noch weitere Risse in der Mauer des Schweigens entstehen.

Reinhard Gasser ist verantwortlich für die SRK-Programme in Nepal