Chronische Krankheiten: Vernachlässigte strukturelle Ursachen

Das blinde Auge der Präventionsarbeit

Von Martin Leschhorn Strebel

Dank dem UNO-Weltkongress zu nicht-übertragbaren Krankheiten im kommenden September erhalten die Chronischen Krankheiten endlich einen höheren Platz auf der globalen Gesundheitsagenda. Martin Leschhorn Strebel* hofft, dass nun endlich auch die strukturellen Ursachen der globalen Epidemie angegangen werden.

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Du sollst nicht rauchen und sollst nicht übermässig Alkohol trinken; du sollst dich gesund ernähren und du sollst dich viel bewegen. Die Präventionsslogans gegen die sich rasant vermehrenden chronischen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Krebs zielen weltweit primär darauf ab, das individuelle Verhalten jedes einzelnen Menschen zu beeinflussen. Die Gesundheitsbehörden und –institutionen appellieren an die persönliche Verantwortung und unterstreichen damit, ein gesunder Lebensstil unterliegt der freien Wahlmöglichkeit.

Selbst wenn der Staat durch Steuern auf Tabak und Alkohol oder durch Rauchverbote in öffentlichen Räumen gesundheitsfördernd handelt, geht es einzig darum, das individuelle Verhalten zu beeinflussen. Das Interventionsfeld ist zwar die öffentliche Gesundheit, argumentiert wird aber mit der individuellen Gesundheit: Gerade das machte es den Präventionsgegnerinnen und –gegnern so einfach, sich gegen die wichtigen Präventionsbotschaften mit dem Ruf „Bevormundung!“ zu wehren.

Individuelle Wahlfreiheit?

Natürlich ist das individuelle Verhalten für die Gesundheitsförderung wichtig: Es ist richtig, dass auch das Umfeld, in dem sich der einzelne Mensch bewegt, so gestaltet wird, dass er sich gesund entwickeln kann: Kinder brauchen Freiräume, um zu spielen; in den Städten weltweit müssen Erwachsene auf sichere Fahrradsstrecken und Fusswege zählen können. Prävention gegen chronische Krankheiten wird zwar bei diesen Konzepten umfassender angegangen, doch auch sie zielen einzig auf das individuelle Verhalten. Kürzlich hat etwa Nestlé Schweiz von der Gesundheitsförderung das Qualitätslabel „Friendly Work Space“ erhalten, das für ein nachhaltiges und systematisches betriebliches Gesundheitsmanagement steht. Das freut jeden einzelnen Angestellten – gesundheitsfördernder werden dadurch die einzelnen Nestlé-Produkte und das Geschäftsgebahren des Konzerns allerdings nicht.

Ruth Bell, die am -Bericht der WHO-Kommission zu den sozialen Determinanten von Gesundheit (Commission on Social Determinants of Health, CSDH) mitgearbeitet hat, brachte es am Symposium des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz vor knapp zwei Jahren auf den Punkt: „Die individuellen Entscheidungen, die Menschen treffen, sind durch soziale, ökonomische und politische Faktoren und durch kulturelle Normen und Werte beeinflusst.“

Die Präventionsarbeit neigt weltweit dazu, die soziale Dimension und die strukturellen Ursachen der globalen Epidemie der Chronischen Krankheiten auszublenden. Und dies obwohl verschiedene Untersuchungen, wie etwa die bahnbrechende Arbeit der erwähnten WHO-Kommission, zeigen, dass Tabak- und Alkoholkonsum, Bewegungsarmut und qualitativ ungesunde Ernährung, schichtspezifisch sind. Deshalb sind die Unterschiede zwischen den Menschen bezüglich ihres Gesundheitszustandes nicht nur riesig zwischen reichen und armen Ländern, sondern auch innerhalb einer einzigen Stadt: In Glasgow gibt es ein Quartier, wo die Lebenserwartung 80 Jahre beträgt – die Strasse runter in Parkhead werden Männer in der Regel 59 Jahre alt – was der Lebenserwartung in Nordkorea oder Jemen entspricht.

Liberalisierung und Diabetes

Chronische Krankheiten sind auch die Folge von wirtschaftspolitischen Entscheiden: Mit dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA verpflichtete sich Mexiko 1994, ausländische Investitionen zu erleichtern. 1993, also vor der Vertragsunterzeichnung, betrugen us-amerikanischen Direktinvestitionen in die mexikanische Lebensmittelindustrie 210 Millionen US-$. Fünf Jahre nach der NAFTA-Unterzeichnung stiegen die us-amerikanischen Direktinvestitionen auf 5.3 Milliarden US-$. Zwischen 1993 und 2003 stieg der Anteil von verarbeiteten Nahrungsmitteln (Soft Drinks, Snacks etc.) in Mexiko um 5-10% pro Jahr. 1999 stammten 46% der Energie, die sich Kinder zwischen eins und vier Jahren in Mexiko zu sich nahmen, aus verarbeiteten Lebensmitteln. Im gleichen Zeitraum haben Fettleibigkeit und Diabetes in Mexiko epidemische Ausmasse angenommen: Fettleibigkeit und Übergewicht stiegen von 33% 1988 auf 62.5% im Jahr 2004; 8% der MexikanerInnen leiden unter Diabetes.

Die gleichen strukturellen Mechanismen liessen sich wohl auch im urbanen Afrika aufzeigen. Dort sind es etwa südafrikanische Ladenketten, welche die Zugänglichkeit zu krankmachenden Produkten erhöhen. Für die schwachen afrikanischen Gesundheitssysteme stellt dies eine enorme Belastung dar.

Präventionsarbeit, welche diese Dimension der globalen Verbreitung von Chronischen Krankheiten nicht angeht, ist auf einem Auge blind. Die WHO-Kommission zu den sozialen Determinanten hat aufgezeigt, dass die fundamentalen Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit die ungleiche Verteilung von Macht, Geld und Ressourcen sind. Hier muss denn auch im Kampf gegen die Chronischen Krankheiten angesetzt werden: Die Lebensbedingungen der einzelnen Menschen müssen genauso verbessert werden, wie auch die Strukturen, welche die individuellen Entscheidungen bestimmen, demokratischer und gerechter werden müssen. Es bleibt zu hoffen, dass die UNO-Weltkonferenz zu den Chronischen Krankheiten nicht auch auf diesem Auge blind bleibt.

*Martin Leschhorn Strebel ist Redaktor des MMS Bulletin und Geschäftsleitungsmitglied des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz. Kontakt: mleschhorn@medicusmundi.ch

Quellen

  • Ruth Bell: Individual Choices and the Social Circumstances. Social Determinants of Health and Chronic Diseases. In: MMS Bulletin 115, February 2010, pp 19-23.
  • Closing the gap in a generation. Health equity through action on the social determinants of health: final report of the commission on social determinants of health. World Health Organization 2008
  • Rowenna Davis: A close call on health inequalities. Guardian-Online, 16 February 2011.
  • Global Health Watch 2: An Alternative World Health Report. London 2008

MMS Dossier:

Das Netzwerk Medicus Mundi Schweiz hat ein Online-Dossier zur globalen Dimension der Chronischen Krankheiten publiziert.
http://www.medicusmundi.ch/mms/services/dossiers/chronische-krankheiten-die-globale-epidemie