Editorial

Wegschauen ist nicht länger opportun!

Von Martina Staenke

Seit dem Sommer 2015, seit eine grosse Anzahl von Menschen auf der Flucht nach Europa gekommen sind, beschäftigt kaum ein Thema derart die Öffentlichkeit wie die Migrationsfrage. Es vergeht kaum eine Woche, in der wir nicht mit erschütternden Bildern von geflüchteten und verzweifelten Menschen rund um den Globus konfrontiert werden, von Menschen in überfüllten Flüchtlingscamps, von ertrinkenden Bootsflüchtlingen im Mittelmeer oder von solchen, die keiner aufnehmen will, wie jüngst im Falle des Skandals um die Rettungsaktion der Organisation Sea-Watch. Die Festnahme und Kriminalisierung der Kapitänin Carola Rackete, die 40 Bootsflüchtlinge in Seenot vor dem Ertrinken rettete, wozu sie nach international geltendem Recht auch verpflichtet ist, zeigt einmal mehr, die EU-Migrationspolitik gleicht einer Katastrophe.

Lesezeit 9 min.
Wegschauen ist nicht länger opportun!

Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Foto: Brainbitch/flickr, CC BY-NC 2.0

Diese Katastrophe offenbart sich auch im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, welchem der Schweizer Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler im Auftrag des UN-Menschenrechtrates kürzlich einen Inspektionsbesuch abstattete. Die Situation vor Ort hat ihn erschüttert, wie er im Interview mit der Zeit berichtete: "Hier müssen sich 100 Personen eine Dusche und eine Toilette teilen. Die ist oft verstopft, verdreckt, Fäkalien liegen herum. Es gibt kein warmes Wasser, keine Schulen und ganze zwei Ärzte – für 5.000 Menschen! (...) Auch die Sicherheit ist nicht gewährleistet, obwohl griechische Polizisten vor Ort sind. Viele Frauen trauen sich nachts nicht, auf die Toilette zu gehen, weil es Vergewaltigungen gab. Mit all dem habe ich erst den physischen Zustand beschrieben. Das psychische Elend kommt noch hinzu." Aus Ziegler´s Sicht sind die Zustände ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und das Lager müsste sofort geschlossen werden. Ausserdem erhebt er den Vorwurf, dass Brüssel die Situation bewusst hinnimmt, um mit abschreckenden Bildern weitere Menschen von der Flucht abzuhalten (Die Zeit: "Die Leute leben hier wie Tiere", 24. Mai 2019)

Flucht - ein Leben in Angst vor und durch Gewalt

Physische und psychische Gewalt ist auch auf vielen internationalen Flucht- und Migrationsrouten allgegenwärtig, wo Menschen misshandelt, vergewaltigt oder gefangengenommen werden. Vor allem Frauen, die gerade auch wegen erlebter oder drohender sexualisierter Gewalt ihre Heimat verlassen haben, werden überdurchschnittlich häufig auf der Flucht oder danach erneut Opfer von sexuellen Misshandlungen (Beitrag Bylang / Beitrag Schäfer). Schon seit Jahren international verurteilt, unternehmen die Staaten viel zu wenig oder fühlen sich nicht verantwortlich, diesen Verbrechen entgegenzuwirken, kritisiert Gina Bylang, die für die  International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC) in Flüchtlingscamps mit traumatisierten Frauen arbeitet, in ihrem Artikel: "Between 2016-2018, sexual and gender-based Violence (SGBV) services for women and girls only accounted for 0.12% of the total humanitarian funding. SGBV needs to be treated as life-threatening human rights issue, and efforts to address it have to be increased." (Beitrag Bylang).

So spielen sich auch auf den Fluchtrouten in Lateinamerika gegenwärtig Dramen ab. Auf der Flucht vor Gewalt in ihren Heimatländern, erfahren Flüchtlinge neue Gewalt und viele meist junge Menschen werden aufgrund einer "rigorosen Abschiebepraxis" traumatisiert in ihre Herkunftsländer zurück deportiert. Ein Projekt von terre des hommes schweiz zeigt auf, wie psychosoziale Unterstützung "das Trauma der Flucht überwinden" hilft (Beitrag Zellhuber).

Ladies carrying water back to their home. Foto: Riyaad Minty/flickr, CC BY-NC 2.0

Fehlgeleitete Migrationspolitik

Fakt ist, die Welt benötigt dringend adäquate Lösungen, denn die Zahlen sind alarmierend und bedeuten einen erneuten Rekord im Vergleich zum Vorjahr. Wie im Juni 2019 im aktuellen Weltflüchtlingsbericht des UNHCR (Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen) vorgestellt, waren mit 70,8 Millionen noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie 2018. Das sind 2,3 Millionen mehr als im Vorjahr und ca. doppelt so viele wie noch vor 20 Jahren. Jeder 2. Flüchtling ist  jünger als 18 Jahre. Die Menschen fliehen vor Konflikten, Verfolgung oder Menschenrechtsverletzungen. Nicht berücksichtigt ist dabei die Zahl der Menschen, die aufgrund von alamierendem Klimawandel (ARD: Klimafluch und Klimaflucht, 2019), Umweltkatastrophen oder wirtschaftlichen Notlagen ihre Herkunftsländer verlassen. Notlagen, die vor allem die reichen Industrieländer zu verantworten haben.

Obwohl zum allergrössten Teil die Entwicklungsländer von der globalen Flüchtlingskrise betroffen sind und mehr als die Hälfte der weltweit Vertriebenen nicht einmal die Grenzen des eigenen Herkunftslandes überschreiten (Beitrag Schäfer), wird Flucht und Migration vor allem in Europa und in anderen westlichen Industrienationen als Bedrohung dargestellt (Beitrag Santino, WHO Regional Office for Europe).

Statt Migration als eine Realität und als strukturelles Phänomen des 21. Jahrhunderts zu akzeptieren (Beitrag Told), ist die gesellschaftliche Debatte von Abwehr geprägt: Populistische Politiker*innen instrumentalisieren die Flüchtlingskrise für eigene Interessen, die EU verschiebt ihre Grenzen nach Nordafrika und die Schweiz bemüht neuerdings die Entwicklungszusammenarbeit um Flucht und Migration zu verhindern.

Politische Lösungen, wie sie sowohl zur Umsetzung der Agenda 2030 als auch für einen menschenwürdigen Flüchtlingsschutz erforderlich sind, sehen anders aus! Dabei hatte sich die Weltgemeinschaft bereits 2016 am ersten UN-Gipfel zu Flucht und Migration, auf der von 193 Staaten unterzeichneten New Yorker Erklärung auf eine bessere Zusammenarbeit und die Teilung von Verantwortung verständigt. In der Folge wurden zwei globale Vereinbarungen, der "Global Compact on Refugees (GCR)" und der "Global Compact for Migration (GCM)" verhandelt und im Dezember 2018 verabschiedet (Beitrag Told / Beitrag Krause et al.). Inwieweit die Vereinbarungen zentrale Probleme und Herausforderungen ansprechen, wird im Artikel von Krause im Hinblick auf den "Global Compact on Refugees" diskutiert (Beitrag Krause et al.)

Joint UN-AU High Level Delegation Visits IDP Camp in DRC. Foto: UN Women/flickr, CC BY-NC-ND 2.0

Migration und Gesundheit - eine Debatte geprägt von Falschannahmen

Viele Vermutungen zum Thema Migration sind jedoch nicht nur falsch, sondern auch schädlich für die Integration von geflüchteten Menschen. So übersehen diese Vorurteile, dass Migrant*innen in der Regel mehr zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Aufnahmelandes beitragen, als dass sie Kosten verursachen. Vielerorts in den wohlhabenden Ländern könnte beispielsweise die Versorgung von alten und kranken Menschen ohne ausländisches Personal nicht mehr aufrechterhalten werden (Beitrag Ruggia).

Ähnliche Falschannahmen und Vorurteile kursieren auch über den vermeintlich schlechten Gesundheitszustand, in dem sich Migrant*innen und Flüchtlinge bei Ankunft befänden und über die gefährlichen Krankheiten, die sie einschleppten und die sich nun ungezügelt ausbreiteten. Neue weltweite wissenschaftliche Untersuchungen wie z.B. der Bericht des Fachmagazins Lancet "The health of a world on the move" (2018) entlarven diese Annahmen als Mythen und betonen, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Migrant*innen verfügen bei Ankunft im Gastland in der Regel über eine gute Gesundheit, denn, so die Wissenschaftler, ansonsten hätten sie die oft gefährliche Flucht gar nicht überstanden. Die Rede ist auch vom "Healthy-Migrant-Effekt". 

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch ein erstmals vom europäischen Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfasster Bericht zur Gesundheit von Flüchtlingen und Migrant*innen in Europa "Report on the health of refugees and migrants in the WHO European Region" (2018). Darin wird ebenfalls festgestellt, dass Migrant*innen bei ihrer Zuwanderung im Durchschnitt gesünder sind, weil in der Regel auch deutlich jünger als die Aufnahmegesellschaft.  Dennoch, so der Bericht, befinden sich diese Menschen in einer vulnerablen gesundheitlichen Situation. Zum einen aufgrund der Gefahren, denen sie während der Flucht ausgesetzt sind, aber vor allem aufgrund der oft schlechten ökonomischen Bedingungen im Aufnahmeland nimmt das Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen überdurchschnittlich zu: "(...) refugees and migrants can be at risk of falling sick during transition or whilst staying in a host country due to poor living conditions and social determinants of health." (Beitrag Santino, WHO Regional Office for Europe). Inwieweit sich diese sozialen Determinaten von Gesundheit, d.h. schlechte soziale und ökonomische Lebensverhältnisse und die Erfahrung von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung auch negativ auf die Entstehung chronischer Krankheiten auswirken, erläutert Luciano Ruggia anhand der Diabeteserkrankung (Beitrag Ruggia).

Insgesamt gesehen, so die Studien, wurde der Gesundheit von Flüchtlingen und Migrant*innen sowohl in den Transit- als auch in den Aufnahmeländern bislang zu wenig Aufmerksamkeit zuteil und vielfach sind sie medizinisch unterversorgt. Politische Massnahmen einzelner Länder, wie z.B. dass Asylbewerber in den ersten Monaten nur bei akuten Krankheiten und Schmerzzuständen medizinisch behandelt werden, verstossen eindeutig gegen das Recht auf Gesundheit.

 

 Refugee strike. Foto: Montecruz Foto/flickr, CC BY-SA 2.0

Situation von Geflüchteten in der Schweiz - "Das Leben steht zwei Jahre still!"

Auch die Schweiz fährt einen harten Kurs und betreibt wie ganz Europa eine Abschiebepolitik. 2015 wurden die Gesetze für das Asylrecht verschärft und als eines von wenigen Ländern hat das Land den "Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration" (2018) nicht unterzeichnet. Wie das Spektrum der Artikel in unserer Bulletin Ausgabe zeigt, bestehen trotz durchaus erfolgreicher Projekte wie das Swiss Hospitals for Equity, hinsichtlich des Zugangs zum schweizerischen Gesundheitssystem für Flüchtlinge und Migrant*innen eine Vielzahl von Barrieren.

Wie im europäischen Vergleich festgestellt, leiden Asylsuchende auch in der Schweiz überdurchschnittlich häufig unter psychischen Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen. Bei ca. 50-60% wird eine Traumafolgestörung diagnostiziert, meist aufgrund der negativen Erlebnisse im Heimatland, während der Flucht sowie im Gastland (Beitrag Oester / Beitrag Zolliker).

Die beschränkten Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung und gesellschaftlichen Partizipation im Gastland stellen vor allem für junge Menschen eine psychisch krankmachende Situation dar, wie junge Flüchtlinge aus der Schweiz berichten: Der unklare Aufenthaltsstatus und das jahrelange Warten auf einen Entscheid machen die Situation oft unerträglich. Ein Teilnehmer im Workshop von terre des hommes schweiz fasst das Empfinden in Worte: "Das Leben steht zwei Jahre still". Und eine andere Teilnehmerin betont: "Niemand muss mir etwas geben oder etwas tun. Ich will einfach, dass man mich machen lässt. Ich will in die Schule, eine Ausbildung machen und einen Job haben" (Beitrag Valentin).

Der Verein Paxion kritisiert, dass die eingeschränkte Selbstbestimmung von Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung sowie unbehandelte psychosoziale Belastungen sich als ein Hindernis für soziale und berufliche Eingliederung erweisen. Obwohl viele Untersuchungen dies belegen, gibt es dramatisch wenig Therapieplätze und kaum eine Kostenübernahme für die dringend benötigten Übersetzer*innen (Beitrag Oester), statt dessen ein jahrelanger Streit bezüglich der Zuständigkeit zwischen Bund und Kantonen. Der Verein ebenso wie die Genfer Organisation Appartenance betonen die essentielle Bedeutung einer Therapie in der Muttersprache der Betroffenen - Sprache gilt als Säule der Therapie (Beitrag Zolliker). Oft wären keine langen Therapien notwendig, aber die Verweigerung eines angemessenen, sprachlich und kulturell sensiblen Betreuungsangebotes hat eklatante Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft.

Grosse Mängel zeigen sich auch in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, den Sans-Papiers. Das Leben im Verborgenen, in meist prekären Verhältnissen und die Angst vor einer Ausweisung sind gesundheitlich sehr belastend. Dass auch sie über gewisse Rechte, wenn auch eingeschränkt, verfügen, ist ihnen meist nicht bekannt, was dazu führt, dass sie bei "gesundheitlichen Problemen sehr oft erst dann Hilfe suchen, wenn es nicht mehr anders geht", wie das Schweizerische Rote Kreuz berichtet (Beitrag Bisegger).

In vielen weiteren Bereichen bestehen markante Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung zwischen Flüchtlingen sowie Migrant*innen und der schweizerischen Mehrheitsbevölkerung. So zeigt z.B. eine Statistik für den Bereich der reproduktiven Gesundheit, dass Migrantinnen aufgrund von mangelhaften Verhütungsangeboten oder psychosozialem Stress 2,5mal mehr Schwangerschaftsabbrüche als Schweizerinnen vornehmen oder ausländische Schwangere ihre Kinder viel häufiger per Kaiserschnitt zur Welt bringen. In der Überzeugung, dass es sich bei letzterem nicht nur um ein medizinisches Problem handelt, bietet Mamamundo interkulturelle, mehrsprachige Geburtsvorbereitungskurse an, die Wissen und Sicherheit vermitteln (Beitrag Steimann).

Imvepi Refugee Camp. Foto: UNMISS/flickr, CC BY-NC-ND 2.0

 

Ein Plan mit Zukunft?

Die oben genannten Defizite will die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nun ändern. Lange Zeit vernachlässigt, verabschiedeten an der diesjährigen Weltgesundheitsversammlung (WHA) 2019 die Mitgliedsstaaten erstmals einen Fünf-Jahres-Plan ("Promoting the health of refugees and migrants: draft global action plan 2019–2023" - GAP), der zur umfassenden Verbesserung der Gesundheit von Flüchtlingen und Migrant*innen beitragen soll. Der Aktionsplan fordert den Gesundheitsbedürfnissen dieser Bevölkerungsgruppen zu jeder Zeit und in jedem Setting (auch in humanitären Notsituationen), auf adäquate kultursensible Weise zu begegnen, unabhängig von ihrem legalen Status. Eine zentrale Forderung lautet, dass jeder Staat einen nationalen Plan zur Umsetzung der GAP-Prioritäten ausarbeitet und die Gesundheitsrechte von Migrant*innen in nationales Recht eingebettet werden sollen.

Ist nun alles gut? Mitnichten! Die Krux an der Geschichte ist, dass der schöne Plan die Mitgliedsstaaten zu rein gar nichts verpflichtet. Wie schon die Umsetzung der beiden globalen Pakte, der GHR und der GHM vor allem auf Freiwilligkeit beruhen, haben wir nun ein weiteres unverbindliches Papier, wie dies von der Zivilgesellschaft an der WHA heftig kritisiert wurde: "For purposes of clarity, this global action plan on the health of refugees and migrants is voluntary; its acceptance by the Health Assembly would not change the voluntary nature of the plan. (...) There is nothing in this draft which commits member states to any action or which might hold member states accountable (...)", so der Kommentar von People´s Health Movement.

Trotz aller Unverbindlichkeiten und der Vernachlässigung von Fluchtursachen könnte der WHO Aktionsplan (GAP) ein Anfang sein, um die Gesundheit von Migrant*innen und Flüchtlingen ganz oben auf die globale Agenda zu setzen und das Leben einiger der am stärksten gefährdeten Menschen der Welt zu verbessern. Die Umsetzung des Planes, der ein Programm liefert und bestehende Herausforderungen beim Namen nennt, wäre ein entscheidender Schritt in Richtung Universal Health Coverage, Health Equity und Leaving no one behind.  

Viel hängt davon ab, ob dies gelingen wird oder ob wir weiterhin feststellen müssen, was Ban-Ki Moon bereits 2016 anprangerte: Was wir erleben, ist keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität (Beitrag Told). Vor allem letzteres lässt sich aktuell wieder in erschreckendem Masse beobachten und es scheint, als habe das Desaster für geflohene Menschen im Jahr 2019 einen neuen Höhepunkt erreicht (Beitrag Borel).

 

Martina Staenke
Martina Staenke
Mitarbeiterin Kommunikation Medicus Mundi Schweiz.