Afrikanische Migrationskirchen in der Schweiz und die HIV-Prävention

Beharrlich gegen Ängste, Vorurteile und Misstrauen

Von Noël Tshibangu

Die HIV Präventionsarbeit in der Schweiz muss sich zielgruppenspezifisch an MigrantInnen aus dem südlichen Afrika wenden. Unabdingbar dafür ist die Zusammenarbeit mit den afrikanischen Migrationskirchen. Die Arbeit der Aids Hilfe Schweiz zeigt, dass es sich dabei um einen steinigen aber auch lohnenden Weg handelt.

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Schon allein der Titel dieses Aufsatzes kann als Fortschritt betrachtet wird, abgesehen davon was genau unter Zusammenarbeit verstanden wird und wie tatsächlich die Tiefe und Qualität der Zusammenarbeit sind.

Mathematisch gesehen, könnte diese Zusammenarbeit (Za-m-aK) so beschrieben werden:
Za-m-aK = nHerkunftsländer Information [∑ (soziales.rechtliches.spirituelles.mystisches. politisches .organisational-strukturelles)x ∅(nKcal.nKontakte.nKirchgruppen)2]

Natürlich kann ich das exemplarische Rechenmodell hier oben nicht einfach lösen. Dazu bräuchte ich zunächst eine solide Weiterbildung. Diese mathematische Formel soll aber einigermassen schematisch die Komplexität aufzeigen, wie sie bei einer Zusammenarbeit mit afrikanischen Kirchgruppen vorzufinden ist. Weiter führt uns dieses Modell auch vor Augen, dass wesentliche Aspekte sehr dynamisch und nicht greifbar sind, zudem auch noch relational bedingt sind und, diese sind keinesfalls für die afrikanischen Gruppen spezifisch.

Der Begriff „Migrationskirche“ ist v.a. von Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) geprägt. Darunter werden Kirchen, Gemeinden und Hauskreise subsumiert: „Als Migrationskirchen werden Zusammenschlüsse von Christinnen und Christen mit Migrationshintergrund bezeichnet, die sich selbst als Kirche verstehen.“ (Röthlisberger/Wüthrich 2009, S. 9). Über die Arbeit mit afrikanischen Migrationskirchen in der Schweiz zu schreiben heisst, zuerst darüber zu berichten, wie überhaupt diese Kooperation zustande kam, über viele kleine Schritte einer langjährigen Entwicklung zu erzählen und in verdichteter Form über wichtige Erfolgsmomente und manche Herausforderungen zu reflektieren.

Ausgangslage und Umfeld

Schon bei der Entstehung von AFRIMEDIA war die Zusammenarbeit mit Religionsgemeinschaften der Subsahara-MigrantInnen (SSM) ein erklärtes Ziel. Diese Zielrichtung wurde bei der Aidshilfe Schweiz (AHS) weiter verfolgt: Die kirchlichen Organisationen von Subsahara-MigrantInnen sollten für die HIV-Prävention im besten Falle gewonnen oder zumindest in einem ersten Schritt ihre wohlwollende Duldung der Präventionsbotschaften erreicht werden. Im Lauf der Jahre hat die AHS mit dem AFRIMEDIA-Programm über verschiedene Stationen einige Erfolge erzielt.

Am Anfang fehlte es natürlich an verwertbaren Konzepten und Erfahrungen mit SSM Kirchgruppen und entsprechend gab es verschiedene Versuche, die allerdings weitgehend fehlschlugen. Aus damaliger Sicht noch! MediatorInnen in den Kantonen Genf, Waadt und Zürich nahmen damals Kontakte zu verschiedenen Gebets- und Kirchgruppen auf. Der nationalen Koordinator von Afrimedia hat parallel weitere Kontakte geknüpft.

Die Organisationsstrukturen afrikanischer Migrationskirchen waren damals schon immer in Bewegung und ausgesprochen unübersichtlich. Diese Situation hat sich übrigens bis heute nicht stark verändert. (Röthlisberger/Wüthrich, S. 14) Es war ziemlich schwierig die vorhandenen Strukturen zu identifizieren und genau zu lokalisieren: Etliche Treffen und Diskussionen mit einzelnen Pastoren und ihren Verbindungspersonen aus der Subsahara-Diaspora fanden statt. Viele Kontakte verliefen aber im Sand. Unzählige Abmachungen mit Pastoren wurden oft entweder vergessen oder aufgrund anderer Dringlichkeiten kurzfristig abgesagt. Wie wir heute wissen: Ängste, Vorurteile und vielleicht auch ein gewisses Misstrauen standen oft hinter der freundlichen Fassade unserer Gespräche mit Pastoren und anderen Vertretern.

Auch mit den etablierten Landeskirchen wurden Anstrengungen unternommen, denn auf diese setzten wir grosse Hoffnungen, zumal es doch mehrheitlich sie sind, die den Migrationsgemeinden resp. den afrikanischen Kirchgruppen Gebetsräume zur Verfügung stellen. Dabei handelt es sich um eine Art „räumliches Asyl“, denn afrikanische Migrationskirchen hatten grosse Mühe geeignete Räume zu finden. Wir hatten feststellen müssen, dass die Kontakte zwischen den afrikanischen Migrationskirchen und vielen Landeskirchen meistens nicht formalisiert waren (Röthlisberger/Wüthrich, S. 25f.) und damals auch von den letzteren keine nennenswerte Unterstützung zu erhalten war.

Sich kennen lernen, Vertrauen schaffen und erst dann zusammenarbeiten

In Zeiten der Globalisierung kann die lokale Bedeutung der bekanntesten Beispiele nicht ausser Acht gelassen werden: Der grosse Einsatz von Rev. Desmond Tutu oder den unermüdlichen Einsatz von Pastor Gideon bilden nur zwei der prominentesten Beispiele. Mit Sicherheit hat dies dazu beigetragen, dass die afrikanischen Migrationskirchen in der Diaspora bezüglich HIV und AIDS grundsätzlich offener für HIV-relevante Themen geworden sind.

Hierzulande war es nur mit viel Mühe und mit enormem Zeitaufwand möglich, eine Zusammenarbeit zu starten. Dank dem persönlichen Kontakt und einer Portion Beharrlichkeit einer Afrimedia-Mediatorin aus Genf, welche selbst Christin ist, ist es gelungen, einen einflussreichen Pastor zu gewinnen.

Mit diesem Pastor, gleichzeitig Geschäftsführer der CEAS (Conférence des Eglises Africaines en Suisse) ging eine Tür auf. Von da an lief alles konkreter: eine erste Einladung zum Vorstand der CEAS im Juni 2006, die zweite folgte ein Jahr später. Dann folgten weitere Kontakte, welche keine grossen Projekte zu Stande brachten. Mit den Vertretern der CEAS diskutierten wir über vieles, vor allem aber über die Schwierigkeiten resp. die vermeintliche Unvereinbarkeit des Themas HIV mit den kirchlichen Lehren. Nach langem Ringen einigten wir uns schliesslich auf eine erste Idee, einem Auftritt der AHS am sogenannten Culte Fédéral (Jährliches Gesamtgottesdienst von Mitgliedskirchen der CEAS) im 2009 in Fribourg. In einer fünfminütigen Rede durften wir ausschliesslich über die AHS und ihr Mandat sprechen. Natürlich waren der Inhalt meiner Rede an diesem Anlass mit den Verantwortlichen sehr genau abgestimmt worden.

Der Culte Fédéral ist mit ihren jeweils über 600 TeilnehmerInnen die grösste Versammlung der CEAS. Es begleitete mich eine afrikanische Frau, welche mit HIV lebt. Ihr Kurzwort ging den Teilnehmenden direkt ins Gewissen. Nach diesem Gottesdienst kamen etliche Personen zu meiner Begleiterin und bedankten sich für ihre Offenheit, darunter auch zahlreiche direkt Betroffene. Der von vielen Pastoren so sehr befürchtete grosse Skandal blieb aus. Nur beim Informationsstand ging es wirklich turbulent zu: Denn einige Jugendliche aus diesen Kirchgruppen holten nicht nur die Informationsbroschüren, sie verlangten auch Kondome, worauf natürlich unsere Mitarbeiterin selbstverständlich einging, obwohl Kondome nicht auf dem Informationstisch lagen. Klar verstiess dies gegen die Hauptauflage für den Infostand. Dieser Vorfall ebnete vielleicht auch einen direkten Zugang zu den Teilnehmern, und er offenbarte uns die Kluft zwischen Pastoren und ihren Gemeindemitgliedern.

Sechs Monate später waren die AHS und der CEAS schon in der Lage, einen ersten gemeinsam organisierten Konsultationstag über die Situation von Betroffenen in den afrikanischen Gemeinschaften zu organisieren. Die Idee hatte im Wesentlichen zum Ziel, eine formalisierte Plattform, einen Gesprächsraum zu schaffen, um gezielt die Themen rund um HIV im kirchlichen Rahmen zu diskutieren.

Die langfristige Absicht besteht aber darin, eine verbindliche Zusammenarbeit, eine Partnerschaft zwischen der AHS und der CEAS zu etablieren. Mittlerweile zählt die Zusammenarbeit mit der CEAS einige Fortschritte: es folgten Einladungen zu verschiedenen Kirchgruppen in Baden, Zürich, Biel etc. Eine Diskussionsrunde zum Thema HIV wurde beispielsweise in der Eglise d’expression tropicale in Aigle (Kanton Wallis) organisiert, wobei auch 1500 Kondome ihre Abnehmer fanden. Diverse Personen konnten an Test- und Beratungsstellen vermittelt werden. Beim zweiten Konsultationstag im Juni 2010 stieg die Anzahl TeilnehmerInnen und Pastoren beträchtlich. Immer mehr Schnittpunkte zwischen dem „sozialen und integrativen Auftrag“ der Kirchen und der Präventionsarbeit werden auch von Pastoren erkannt und befürwortet.

Analyse der Kontaktdynamik

Aus den vielen Kontaktversuchen ist allmählich Vertrauen erwachsen. Die oftmals frustrierenden Kontaktversuche von früher scheinen nun im neuen Licht. Der grosse Zeitaufwand war nötig und die Geduld musste aufgebracht werden. Die entscheidende Kontaktvermittlung durch die Mediatorin aus Genf, welche die kirchliche „Sprache“ kann, bürgte für Vertrauenswürdigkeit der AHS, sie machte den Anstoss zu einer offeneren Haltung der Verantwortlichen innerhalb der CEAS. Denn wie eingangs gesagt, manche Vorurteile prägten die ersten Annäherungsversuche. Oft musste ich diesen Satz wiederholen: „HIV-Prävention ist nicht einfach eine Art Kondom-Predigt: es geht vor allem um die Gesundheit, um Beziehungs- und Verantwortungsfragen für sich und gegenüber anderen und unseren Familien“. Als nützliches Hilfsmittel erwies sich auch die Broschüre von mission 21 „Gott bricht das Schweigen: Predigen in Zeiten von HIV und Aids“, welches auch für manche grossen Augen bei Pastoren gesorgt hatte. Sie bot viel Diskussionsstoff.

Für die jetzige Situation und die positive Entwicklung sind viele Faktoren mitentscheidend, welche unter dem Stichwort Beziehungsarbeit gefasst werden können. Für die Zusammenarbeit war es hilfreich und für die Beziehungsarbeit dienlich, dass MediatorInnen und der nationale Koordinator, wenn immer möglich an den Veranstaltungen dieser Migrationskirchen teilgenommen haben. Damit drückte die AHS ihr Interesse und Wertschätzung an diesen Kirchen und ihrer Tätigkeiten aus. Dies trug sicherlich wesentlich dazu bei, die Vertrauensbasis zu stärken und die persönlichen Beziehungen zwischen AHS und CEAS zu festigen.

Über HIV zu sprechen, fiel am Anfang vielen Pastoren schwer, weil bei den Mitgliedern dies mit „Befürworten von unsittlichem Verhalten“ gleichgesetzt und dadurch die Aufrichtigkeit angezweifelt wurde. Viele Pastoren hatten entsprechend Angst, dass die Grundlage ihrer Legitimität und ihrer Autorität in Frage gestellt würden. Die AHS möchte deshalb motivierte Pastoren moralisch Unterstützen.

Es ist mittlerweile klar, dass diese Kirchen und die AHS rund um das Thema HIV viele gemeinsame Anliegen haben, wenn auch mit unterschiedlichen Aufgaben und Rollen. Ein Konsens herrscht inzwischen auch darüber, den Fokus auf gemeinsame Anliegen zu legen. Selbst das Kondom ist langsam kein Streitthema mehr.

Ausblicke

Nebst manchen doch nicht vernachlässigbaren Fortschritten, werden unsere Interventionen in diesem Umfeld immer noch mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Die AHS wird beispielsweise noch viel zu tun haben, Frauen in den Migrationskirchen für eine aktivere Rolle in dieser Zusammenarbeit zu gewinnen. Christliche Familien könnten dadurch direkt und noch besser erreicht werden. Auch gilt es daran zu arbeiten, dass die HIV-Prävention nicht nur mit Migrationskirchen durchgeführt wird, sondern mehr und mehr von diesen selbst getätigt wird, wie auch eine Unterstützung von Betroffenen durch die Migrationskirchen. Hoffentlich können in Zukunft die afrikanischen Migrationskirchen die Präventionsbotschaften selbst vertreten und in ihren Diskurs integrieren.

Sicher werden weiterhin auch Diskussionen und Debatten auf der internationalen Ebene, wie eingangs erwähnt, auch hierzulande rezipiert, aber leider nicht immer mit positiven Folgen, wie die jüngste umstrittene päpstliche Stellung zum „Kondom“ bei seiner letzten Reise in Kamerun beweist. Klar bleibt jedoch, dass jede erfolgreiche Entwicklung in dieser Arbeit immer kontextuell zu betrachten ist und viele Dinge, selbst wenn sie gut übertragbar sind, nicht als Rezept verallgemeinert werden können.

*Noël Tshibangu, Leiter Fachbereich Hochprävalenz, Aidshilfe Schweiz. Kontakt: noel.tshibangu@aids.ch

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