Eine Analyse von FAIRMED

Manhattan – Yaoundé – Misoumé. Die Tücken des letzten Wegabschnitts

Von René Stäheli

Der Weg von dem in New York proklamierten Motto «Leave no one behind» bis zu den Zurückgelassenen im Regenwald des Kongobeckens führt über eine holprige Piste.

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Manhattan – Yaoundé – Misoumé. Die Tücken des letzten Wegabschnitts

Nur wenige Aka-Frauen bringen ihre Kinder in Gesundheitszentren zur Welt. Foto: Bakas in Cameroon, Simon Huber / © FAIRMED


Die SDG-Deklaration beinhaltet den Willen, niemanden zurückzulassen, keine Nationen, keine Völker und keine Teile der Gesellschaft im Bemühen, diejenigen zuerst zu erreichen, die am weitesten zurückliegen (Paragraph 4) (United Nations Resolution A/RES/70/1 of 25 September 2015).

Zwischen der Turtle Bay, Manhattan und den Siedlungen der Baka in Ostkamerun muss eine Strasse überwunden werden mit Schlaglöchern von Strategien, die die Zurückgelassenen zurücklassen und z.T. benachteiligen, von Kennzahlen, bei denen die Zurückgelassenen statistisch irrelevant oder gar nicht erfasst sind, von hemmenden Anreizen sowie von Missmanagement und mangelndem politischen Willen.

Die Zurückgelassenen können nur erreicht werden, wenn i) sie und ihre Benachteiligung bekannt sind und ii) gruppenspezifische Pläne existieren, iii) die Ressourcen zielgerichtet eingesetzt werden und iv) die Umsetzung effizient ist. Die stimmlosen Minderheiten kämpfen mit ungleichen und stumpfen Spiessen um den vorderen Platz auf der Prioritätenliste. 

Seit 2009 fördert FAIRMED im Kongobecken (Kamerun, Zentralafrikanische Republik, Kongo) mit Gesundheitsprojekten die Entwicklung der Waldvölker, die gemeinhin als Pygmäen bezeichnet werden. Die in Ostkamerun lebenden Baka sind ein anschauliches Beispiel für Menschen, die zurücklassen sind. Typisch für eine ethnische Minderheit sind die Mitglieder ihrer Ethnie ärmer als die Mitglieder der Bantu-Mehrheit, sie sind Opfer von Diskriminierung und Ausbeutung, sie sind räumlich benachteiligt und leben in abgelegenen Gebieten, es wird kaum in die Infrastruktur investiert und der Wille der Mehrheiten zu ihrer Stärkung ist nicht bemerkbar.

Daten(schlag)löcher

Die Piste zu den marginalisierten Gruppen führt in ein weitgehend unbekanntes Gebiet.

Die Identifizierung der marginalisierten Gruppen und ihrer Bedürfnisse ist eine Voraussetzung zur Erstellung von wirksamen Plänen, die sicherstellen, dass niemand zurückgelassen wird und Fortschritt in der Entwicklung von benachteiligten Gruppen gemessen werden kann. Viele Regierungen wissen nicht genug über ihre eigene Bevölkerung.

Die Datenlage der Baka ist dünn. Die meisten Baka sind nicht registriert, ihre Siedlungen (campements) sind nicht anerkannt und sie haben keinen katastrierten Landbesitz. Sie entziehen sich den auf Haushaltserhebungen und Volkszählung basierenden Statistiken. Die nicht systematisch erhobenen Gesundheitsindikatoren sind durchwegs katastrophal.

Die nach den Millenniumszielen aufgezeigten Fortschritte sagen nicht aus, dass der Fortschritt ungleich erfolgt ist. Während es vielen besser geht, hat sich für die Zurückgebliebenen wenig verändert oder sogar verschlechtert.

Der Lebensraum der nomadischen Bevölkerungsgruppe der Baka in Kamerun wird zunehmend durch Abholzung bedrängt .Foto: Simon Huber / © FAIRMED


Die öffentlichen Gelder, die in die Gesundheit fliessen, begünstigen überproportional die reichen Mitglieder der Gesellschaft. Im Durchschnitt fliessen in Afrika weniger als 40 Prozent des Gesundheitsbudgets in die Basisgesundheit. 60 Prozent und mehr werden aus privaten und externen Geldern finanziert, einschliesslich der aus eigener Tasche bezahlten Kosten (out of pocket, OOP), welche eine grosse Hürde für die Zurückgelassenen darstellen (Public financing for health in Africa: from Abuja to the SDGs, 2016). Die Armen sind einer finanziellen Katastrophe durch Gesundheitskosten um ein Mehrfaches ausgesetzt und Versicherungen können sich vor allem die Reichen leisten. Öffentliche Gelder, die in den Armensektor fliessen, senken die OOP-Kosten, doch profitieren reiche zwei bis sieben Mal mehr als arme Regionen.

Die Kameruner Elite erhält, wenn auch zähneknirschend, im Expressverfahren das Visum für eine Gesundheitsbehandlung in der Schweiz, während ein Baka gar keinen Personalausweis besitzt. Nach der neuen Tendenz, dass Entwicklungszusammenarbeit vor allem dazu dienen soll, die Migration aufzuhalten, wäre eine Investition bei den Baka vollkommen unnötig. Sie haben keine klare Vorstellung davon, was «la Suisse» ist, viele waren noch nie in ihrer Hautpstadt.

Die Ungleichheit, von der die Baka betroffen sind, wird mit den üblichen nationalen Indikatoren nicht erfasst und hat eine weitere Dimension, von der die ebenfalls armen Bantu weniger betroffen sind.

«Worst-off first»-Plan

Wenn die Benachteiligten nicht in der Planung als Priorität gesetzt sind, werden sie völlig abgehängt.   

In Kamerun sind seit der Dezentralisierung die Planung und die Budgets den lokalen Behörden unterstellt, wodurch theoretisch eine Rechenschaft gegenüber den lokalen wahlberechtigten Bürgern besteht. Die wenigsten Baka sind allerdings wahlberechtigt und Planungen und Budgetzuweisungen gehen vollständig an ihnen vorbei.

FAIRMED beteiligt sie zusammen mit den Bantu und den lokalen Behörden am Planungsprozess für die Projekte. Durch die Integration der Baka in die Verwaltungskommitees der Gesundheitszentren können sie ihre Bedürfnisse einbringen. Dies gelingt durch eine intensive Begleitung, da grosse Unterschiede in Macht, Fachkompetenz und Interessen bestehen. Es ist gelungen, dass erstmals eine Vertreterin der Baka von einer unterstützten NGO in den Stadtrat gewählt wurde. Dies ist ein Anfang von politischer Teilhabe, doch werden im Moment die Mehrheitsverhältnisse dadurch nicht entscheidend verändert und es gibt keinen gruppen-spezifischen Plan, weder auf nationaler noch auf lokaler Ebene.

Die ökonomische Anreiz-Lücke

Die Reise auf der holprigen Piste ist nicht nur unbequem, sie ist auch noch teuer.

Eine Voraussetzung für die Umsetzung der universellen Gesundheitsversorgung (UHC) als ein Kernstück der SDGs ist eine gesicherte Finanzierung.

In der Deklaration von Abuja bekannten sich die Führer der afrikanischen Staaten zu 15 Prozent Budgetzuteilung zur Gesundheit. Heute liegt der Durchschnitt bei zehn Prozent und Kamerun trägt mit vier Prozent die rote Laterne (Public financing for health in Africa: from Abuja to the SDGs, 2016). Doch selbst in den Ländern, in denen die Zuwendung zum Gesundheitsbudget gestiegen ist, profitieren die Bedürftigsten durch zu starke Fragmentierung, schlechte Verteilung und ungenügendes Management nicht.

Gemäss Weltbank und Internationalem Währungsfonds fördert eine Pro-Armen-Agenda das Gesamtwachstum, andererseits sind Investoren angezogen durch tiefe Steuern und billige Arbeitskräfte, die keine Rechte einfordern. Investitionen in den Gesundheitssektor stehen in direkter Konkurrenz zu Infrastruktur, Bildung, Landwirtschaft etc. und ihr Einfluss auf das Wachstum wird in verschiedenen Studien uneinheitlich beurteilt (Public financing for health in Africa: from Abuja to the SDGs, 2016, zitiert nach: Source: Barroy H., Sparkes S., Dale E.: Projecting fiscal space for health: A review of the evidence, World Health Organization, Geneva)

Kamerun hat mehr als das Hundertfache an Einwohner als Genf, verfügt indes über das gleiche Haushaltsbudget. Es ist nachvollziehbar, dass Budgetzuweisungen nicht in erster Linie denjenigen zugutekommen, die am weitesten zurückliegen, solange die leichter Erreichbaren auch unterversorgt sind. Wenn der ominöse Trickle-Down-Effekt überhaupt jemals die Benachteiligten erreicht, dann erst, wenn die leicht zu Erreichenden versorgt sind.

In Bankim, Kamerun setzt FAIRMED umgebaute Motorräder ein, die mit einer Spitalliege ausgestattet sind. Foto: Simon Huber / © FAIRMED


Es dürfte keinem Ökonomen gelingen, auf der Basis von Modellen eines aktuellen und zukünftigen Beitrags zum Bruttoinlandprodukt der in Subsistenzwirtschaft lebenden Baka-Pygmäen einen Investment case zu erstellen. Die Baka sind kaum Produzenten oder Konsumenten und ihr gesundheitsbedingter Ausfall verursacht keinen Marktverlust.

Private Investoren sind in dieser Gegend am Holzschlag interessiert, wovon die Baka nicht profitieren, sondern aus ihrer angestammten Lebenswelt vertrieben werden.

Aus ökonomischer Sicht könnte man zynisch bemerken, dass vor allem die indirekten Kosten durch den Verlust als Gratisarbeitskräfte auf den Feldern der Bantu bemessen werden könnten oder dass die Pygmäen aufgrund ihres langsamen Verschwindens als verknapptes Gut für Anthropologen wertvoller werden.

Geldgeber, aber auch die UN und die WHO, mögen beeindruckende Zahlen. Wogegen ein Effizienzverständnis von nationalen Mitteleinsätzen zu möglichst grossen Zahlen an Begünstigten sogar kontraproduktiv ist und die «teuren» Zurückgelassenen benachteiligt.

Das Umsetzungs(schlag)loch

Die Umsetzung eines Planes in konkrete Aktionen ist übersät mit Schlaglöchern.

Die WHO macht in Afrika grosse Verbesserungspotentiale aus. Sowohl in der Budgeterstellung, der Priorisierung, der Realitätsnähe zwischen Steuereinahmen und Ausgaben als auch in der Budgetformulierung, der Umsetzung der Pläne und dem Management der Finanzressourcen.

Die Lücken zwischen den zugewiesenen Budgets und dem tatsächlichen Geldfluss liegen in Afrika bei 10 und 30 Prozent, mit dem Extremfall von 60 Prozent in der DRC. Auch grosse Schwankungen bei den externen Geldern beinträchtigen die Planungssicherheit und führen entsprechend zu Umsetzungsmängeln (Public financing for health in Africa: from Abuja to the SDGs, 2016). Man kann davon ausgehen, dass dies eher die Zurückgebliebenen trifft. Bisher ist kein gruppen-spezifischer Plan bei den Baka angekommen.

Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es (Wilhelm Busch)

Wenn ökonomische und intrinsische Anreize nicht für eine «worst-off first»-Agenda genügen, können die internationalen Organisationen, die Regierungen, die externen Geldgeber und die NGOs eine entscheidende Rolle spielen. Einerseits kann der politische Druck durch die Rechenschaft zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und andererseits die zweck- und zielgerichtete Mittelvergabe an Länder und NGOs einen extrinsischen Anreiz schaffen. Der Preis ist ein gruppen-spezifisches Monitoring anstatt spektakuläre Zahlen.  

Mit jedem Jahr wird der Weg steiler

Es verbleiben noch 12 Jahre, um diejenigen, die am weitesten zurückliegen, aufschliessen zu lassen. Die in ihrer Existenz bedrohte und diskriminierte ethnische Minderheit der Baka zeigt die spezifische Dimension, welche nicht nur entlang des Armutsgradienten verläuft und wie der Trickle-down-Effekt nicht funktioniert, vor allem wenn ein Grossteil der Bevölkerung ebenfalls arm ist. Das Beispiel zeigt, wie wichtig Daten sind, um dringend benötigte, angepasste «worst-off first»-Pläne zu erstellen, wenn der Paragraph 4 der SDG-Deklaration tatsächlich bis 2030 umgesetzt werden und die Lücke zwischen den Zurückgebliebenen und Bessergestellten geschlossen werden soll. Die zu überwindenden Hindernisse sind mannigfaltig und ohne einen starken politischen Willen und internationalen Zusammenhalt werden die Fortschritte erneut an den besonders Benachteiligten vorübergehen. Es gibt in verschiedenen Ländern vielversprechende Ansätze, doch die Zeit drängt. Jedes Jahr, das ohne gezielte Massnahmen verstreicht, führt dazu, dass die Anstrengungen pro Jahr grösser sein müssen, wenn die Ziele bis 2030 erreicht werden sollen.

Referenzen:

  1. Resolution adopted by the General Assembly on 25 September 2015. United Nations Resolution A/RES/70/1 of 25 September 2015: http://www.un.org/en/development/desa/population/migration/generalassembly/docs/globalcompact/A_RES_70_1_E.pdf
  2. Public financing for health in Africa: from Abuja to the SDGs (2016). World Health Organisation: WHO/HIS/HGF/Tech.Report/16.2: http://www.who.int/health_financing/documents/public-financing-africa/en/

 

René Stäheli
René Stäheli, Geschäftsleiter FAIRMED. Kontakt: