Für Krankheiten von 90 Prozent der Weltbevölkerung bleiben 10 Prozent der Forschungsgelder übrig.

Fatales Ungleichgewicht in der medizinischen Forschung

Von Richard Gerster

Von 1233 neuen Medikamenten, welche zwischen 1975 und 1997 neu auf den Weltmarkt kamen, waren nur 13 auf tropische, ansteckende Krankheiten ausgerichtet, unter welchen die Menschen in ärmeren Ländern leiden. Zu den besonders vernachlässigten Krankheiten zählen zum Beispiel Malaria, Tuberkulose und Schlafkrankheit. Aber auch Atemwegserkrankungen oder Durchfall sind keine vorrangigen Themen für die Forschung, obschon sie in armen Ländern weit verbreitet sind. Ein Leben in Armut zum Beispiel in Afrika verändert die Gesundheitsrisiken völlig im Vergleich zu jenen unter westeuropäischen Verhältnissen.

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Rund 100 Milliarden Franken (73,5 Milliarden US-Dollar, 1998) wendet die Welt in der medizinischen Forschung pro Jahr auf. Die Hälfte der Forschung wird von den Regierungen finanziert, 42 Prozent bringt die Pharma-Industrie auf, und 8 Prozent stammt aus Universitäten sowie gemeinnützigen, privaten Quellen. 90 der 100 Milliarden Franken werden zur Lösung von Gesundheitsproblemen der wohlhabenden Länder und Menschen eingesetzt. Umgekehrt dient nur jeder zehnte Franken der Erforschung von Armuts-Krankheiten, welche die Gesundheit von 90 Prozent der Weltbevölkerung beeinträchtigen. Dieses fatale 90/10-Ungleichgewicht ist eine Folge der fehlenden Kaufkraft der Armen. Sie sind als Markt nicht interessant. Die Dynamik der Globalisierung geht an den medizinischen Bedürfnissen der Mehrheit der Menschheit vorbei.

Zum Marktversagen gesellen sich die Versäumnisse der Politik. Private Hilfswerke wie «ärzte ohne Grenzen» fordern ein neue Vision, einen Paradigmenwechsel, für die medizinische Forschung – weg von der Gewinnorientierung hin zu den ausgewiesenen Bedürfnissen des öffentlichen Gesundheitswesens. Eine unabhängige Arbeitsgruppe für vernachlässigte Krankheiten wurde ins Leben gerufen. Die Politik versucht zum Teil, gemeinsam mit der Industrie Gegensteuer zu geben. Es entstand ein «Globales Forum für Gesundheitsforschung», das als zentrales Ziel die Korrektur des 90/10-Ungleichgewichts zugunsten der Armen verfolgt. Im Rahmen von Partnerschaften zwischen öffentlichen Institutionen und Privatwirtschaft sind neue, allerdings noch punktuelle Ansätze im Entstehen.

Woran Afrikaner, woran Europäer sterben

Die Todesursachen in Afrika und Westeuropa spiegeln die völlig verschiedene Alterspyramide der Bevölkerung, deren anders geartete Lebensverhältnisse und Krankheitsbilder. Auf diesem Hintergrund wird die einseitige Ausrichtung von 90 Prozent der Medikamentenforschung auf die Krankheiten von 10 Prozent der Weltbevölkerung ein Skandal, während für Krankheiten von 90 Prozent der Weltbevölkerung noch 10 Prozent der Forschungsmittel übrig bleiben.


Wichtigste Todesursachen in Afrika und Europa: Abweichungen vom Weltdurchschnitt

Die Graphik weist Aids nicht gesondert aus. In Afrika leben zwei Drittel aller weltweit HIV-Infizierten. Doch fliessen nur wenige Prozent der Forschungsgelder für Aids in den schwarzen Kontinent.

Seit 1987 fanden gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nur zwei Aids-Impfstoffversuche in Afrika statt, obschon sich die dort virulenten HIV-Stämme von jenen der anderen Erdteile unterscheiden.

*Infografik vom November 2002; ©2002 GersterConsulting/h.e.p. verlag. Richard Gerster ist seit Jahren entwicklungspolitisch tätig und Autor von ”Globalisierung und Gerechtigkeit” (hep-Verlag, Bern 2001). Kontakt: www.gersterconsulting.ch. Dank einem Beitrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) erschienen 2002/2003 in loser Folge 12 Infographiken, welche das Buch «Globalisierung und Gerechtigkeit » in aktueller Form ergänzen und weiterführen. ©2002 GersterConsulting/h.e.p. verlag.

Quellen: WHO, nach: Sutcliffe Bob, 100 Ways of Seeing an Unequal World, Zed Books, London/ New York 2001, 35; Global Forum for Health Research, The 10/90 Report on Health Research 2001–2002, Genf 2002; Médecins sans Frontières, Fatal Imbalance: The Crisis in Research and Development for Drugs for Neglected Diseases, Genf 2001