21'000 Schilling - von der Witwe an den Kreditgeber umverteilt...

Aids verändert lokale Wirtschafts- und Sozialstrukturen

Von Kurt Madörin

Der frühere Präsident von Zambia, Kenneth Kaunda, hat Aids einmal eine lautlose Atombombe genannt und hatte damit die verheerenden Wirkungen von Aids in den Ländern des Südlichen Afrika im Auge. Wie die grossen Epidemien im Europa des Mittelalters hat auch Aids neben der unmittelbaren Auswirkung - des Todes von Tausenden von Menschen - längerfristige und vermutlich auch tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Gefüge der betroffenen Gesellschaften.

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Die Auswirkungen von Aids verbinden sich - allerdings in je unterschiedlicher Weise - mit den in allen Gesellschaften beobachtbaren Transformationsprozessen der Globalisierung, die sich mit Stichworten wie Auflösung der traditionellen sozialen Netzwerke, Individualisierung, Koexistenz von unterschiedlichen kulturellen Werten, Zunahme der wirtschaftlichen Ungleichheit etc. beschreiben lässt. In diesem allgemeinen Umfeld - so meine (nicht systematischen) Beobachtungen - scheint Aids eine beschleunigende Wirkungen auf die Transformation auszuüben. Da eine "politische Ökonomie von Aids" noch zu schreiben ist, muss ich mich damit begnügen, diese möglichen tiefgreifenden Auswirkungen an einigen Beispielen aus meiner Arbeit in Tanzania darzustellen.

Ein erster Feld der Auswirkungen lässt sich bei der Haushaltswirtschaft feststellen, und - wie immer in solchen Veränderungen -, stehen Frauen und Kinder auf der Verliererseite.

Fall 1: Clemenzia hat vor vier Jahren ihren Mann verloren. Er hat ihr und ihren vier Kindern eine kleine Shamba mit Kochbananen und Kaffeesträuchern hinterlassen. Nun ist eines der Kinder an Malaria erkrankt und braucht dringend Medikamente. Clemenzia "verkauft" einen Teil der zu erwartenden Kaffeernte für 4'000 Schilling pro Sack. Im Juli, wenn der Kaffee reif ist, würde sie um die 25'000 pro Sack erhalten. Fazit: Umverteilung von rund 21'000 Schilling von einer Witwe mit ihrer Familie an einen wohlhabenden - in den meisten Fällen männlichen - Kreditgeber.

Fall 2: Advera's Mutter war schon früher gestorben, ihr Vater ist schwer krank. Advera ist 18 Jahre, pflegt ihren Vater und sorgt für die zwei jüngeren Geschwister. Ohne ihre Wissen verkauft der Vater das Land und das Haus an einen reichen Rechtsanwalt aus der Stadt, damit er sich Medikamente kaufen kann. Wenn der Vater stirbt, muss Advera das Haus und die Shamba verlassen. Wohin sie dann gehen wird, weiss sie nicht. Fazit: Die Wohlhabenderen (meistens Männer) akkumulieren Boden und werden zu kleineren oder grösseren Grundbesitzern.

Fall 3: Magnus hat beide Eltern verloren. Zeitweise lebte er bei seinem Onkel, der ihn aber schlecht behandelte, ihn schlug und ihn alle Hausarbeit machen liess. Jetzt schleppt er für einen wohlhabenden Händler aus den Ort Wasser und hütet einen Teil dessen Kühe. Er bekommt zu essen und 2'000 Shilling pro Monat (etwa vier Franken). Magnus - heute 15 - hat die Primarschule nicht beendet und hat keine Aussicht, etwas zu lernen. Er hat kein Land geerbt und weiss nicht, wie seine Zukunft aussehen wird. Falls es Magnus in den Sinn käme, den jetzigen Arbeitgeber um eine Lohnerhöhung zu bitten, würde sein Platz von einer wachsenden Zahl anderer arbeitssuchender Kinder und Jugendlicher, meist Waisen, eingenommen. Vielleicht noch um einen geringeren Lohn! Fazit: Es wird in der nahen Zukunft kein Mangel an billigen ausbeutbaren Arbeitskräften - Kindern und Witwen - geben.

Neben den wirtschaftlichen Folgen gibt es andere Auswirkungen, die zwar nicht so augenfällig sind wie die ökonomischen, die aber langfristig tiefer greifende soziale Veränderung auslösen könnten.

Fall 4: Doro lebt mit ihren Geschwistern in einem Kinderhaushalt, einem "children headed household". Da Ange und Lida in die Schule gehen, ist die Fünfzehnjährige für ihre sechsjährige Schwester Diana verantwortlich. In der Regel geht sie ziemlich mürrisch und unwirsch bis grob mit ihrer Schwester um, was für deren Selbstwertgefühl auch nicht gerade förderlich ist. Doro und Diana wohnten jetzt für einige Wochen bei einer Familie, in der sehr aufmerksam und liebevoll mit Kindern umgegangen wird. Und siehe da: Doro begann mit Diana zu scherzen und zu lachen, sie hin und wieder zu streicheln, mit ihr zu plaudern und zu singen. Statt des Fazit eine Frage: Wo sollen verwaiste Jugendliche, die selber noch einer Führung bedürften und sich mit Erwachsenen auseinandersetzen müssten, lernen, wie man mit kleinen Kindern umgeht?

Zum Schluss: Ich lebe und arbeite in einem sehr ländlichen Umfeld. Eine Untersuchung der lokalen World Vision hat gezeigt, dass es bei uns eine wachsende Zahl von "Strassenkindern" - vor allem Mädchen - gibt, obwohl die "Strassen" vorwiegend schmale Wege sind. So hat man sich die Urbanisierung des ländlichen Raumes vermutlich nicht vorgestellt....


*Kurt Madörin ist als Projektkoordinator bei terre des hommes schweiz verantwortlich für das Pilotprojekt "Humuliza" zur psychosozialen Betreuung von Aidswaisen im ländlichen Tanzania. Kontakt: k.madoerin@terredeshommes.ch